Sind alpine PV-Anlagen ein notweniges Übel oder überflüssig?
Es ist weitgehend unbestritten, dass die Schweiz ihre Treibhausgasemissionen auf Netto-Null reduzieren muss und dabei der Elektrifizierung des Energiesystems eine Schlüsselrolle zukommt. Unterschiedlich beurteilt wird hingegen, in welchem Umfang elektrifiziert werden soll und wie stark der Strombedarf in der Schweiz dadurch zunehmen wird. Die Energieperspektiven 2050+ des Bundes zeigen vier mögliche Szenarien auf, wie Netto-Null bis 2050 mit einer ausgeglichenen Jahresbilanz beim Strom erreicht werden könnte. Die zukünftige Stromproduktion beträgt im Basisszenario 85 TWh pro Jahr, am tiefsten ist sie im Szenario B (77 TWh), am höchsten im Szenario A (89 TWh). Der Hauptunterschied liegt im Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen, insbesondere Photovoltaik. Der Beitrag der Photovoltaik bewegt sich zwischen 20 TWh pro Jahr (Zero B) und 39 TWh pro Jahr (Zero A). Gemäss eigenen Berechnungen wird der Bedarf an Strom aus Photovoltaik eher höher sein und sich bei mindestens 44 TWh pro Jahr bewegen.
Ungenügende Klima-Zielsetzungen der Schweiz
Im Klimavertrag von Paris hat sich die Schweiz 2015 verpflichtet, ihren Beitrag zu leisten, um die globale Erhitzung auf deutlich unter 2 °C, wenn möglich auf 1.5 °C zu begrenzen. Durch den Weltklimarat (IPCC) wurde ein globales Budget der Treibhausgasemissionen berechnet, welches insgesamt noch ausgestossen werden darf, damit die durchschnittliche Erderwärmung auf 1.5 °C bzw. 2.0 °C begrenzt werden kann [3]. Verteilt man dieses globale Budget anhand der Einwohnerzahlen auf alle Länder der Erde, so würde die Schweiz mit der Umsetzung des Netto-Null-Ziels bis 2050 anhand der oben erwähnten Energieperspektiven 2050+ in allen Szenarien mehr als 2.5 Mal so hohe Treibhausgas-Emissionen verursachen, wie ihr zustehen[1]. Mit anderen Worten: Die Schweizer Klimaziele sind ungenügend. Bestätigt wird dies auch durch Einschätzungen internationaler Organisationen, wie z.B. Climate Action Tracker. Bei Annahme einer linearen Reduktion der Treibhausgasemissionen über die Zeit vom heutigen Niveau auf Netto-Null, müsste die Schweiz zur Einhaltung des ihr zustehenden Emissions-Budgets das Netto-Null-Ziel bis spätestens 2035 (und nicht erst 2050) anstreben. Dies hat zur Konsequenz, dass der oben erwähnte Ausbau der Photovoltaik-Produktion von heute ca. 3 TWh auf mindestens 39 TWh pro Jahr innerhalb der kommenden 13 Jahren erfolgen müsste.
Die PV-Potenziale in der Schweiz
Glücklicherweise verfügt die Schweiz über sehr grosse Potenziale zur Erzeugung von Strom aus Photovoltaik. Alleine auf den Schweizer Dachflächen beträgt das wirtschaftliche Potenzial ca. 54 TWh pro Jahr. Die Betrachtung der Potenziale allein greift aber zu kurz: Es müssen auch die Umsetzungsmöglichkeiten dieser Potenziale in den nächsten 13 bis 28 Jahre betrachtet werden. Die Realisierung des gesamten Potenzials auf den Dachflächen würde bedeuten, dass mehr als 95 % der Schweizer Gebäude über eine PV-Anlage auf dem Dach verfügen. Um den Vertrag von Paris zu erfüllen, müssten demzufolge praktisch alle Gebäudebesitzer in den nächsten 13 Jahren vom Bau von PV-Anlagen auf ihren Dächern überzeugt werden. Dies ist ohne Obligatorium nicht realistisch: Schon die Hälfte der Gebäudebesitzer zu überzeugen, erscheint ein sehr ambitioniertes Ziel. Eine Analyse der unter der aktuellen Förderung gebauten PV-Anlagen zeigt zudem, dass die Potenziale beim Bau von Photovoltaik-Anlagen jeweils durchschnittlich nur zur Hälfte ausgenutzt werden. Summiert man beide Effekte zusammen, reduziert sich das auf den Dachflächen realistischerweise bis 2035 bzw. bis 2050 realisierbare Potenzial auf grob etwa einen Viertel, d.h. auf ca. 13 bis 15 TWh pro Jahr.
Neben Dachflächen bestehen selbstverständlich weitere Potenziale auf Fassaden, über Parkplätzen, entlang Autobahnen, auf Seen, usw. Die Höhe dieser Potenziale wird unterschiedlich eingeschätzt. Die Umsetzung unterliegt aber grundsätzlich derselben Problematik wie auf den Dächern: Die Besitzer müssen zuerst überzeugt werden, freiwillig und sehr bald solche PV-Anlagen zu bauen.
Bau von grossen PV-Anlagen zur Beschleunigung
Neben den Potenzialen und deren Ausschöpfung muss auch die Kapazität der PV-Branche mitberücksichtigt werden. Diese Kapazität kann nicht beliebig rasch ausgebaut werden. Obwohl das Bundesamt für Energie und auch die PV-Branche neue Rekorde im PV-Zubau melden, müsste der jährliche Zubau fast verdreifacht werden, um das ungenügende Ziel von Netto-Null bis 2050 zu erreichen! Die Realisierung eines grossen Teils des Dachflächenpotenzials innert 13 Jahren wäre grundsätzlich möglich, würde aber personelle Unterstützung von aussen und besondere Massnahmen erfordern. Zeitlich und wirtschaftlich am effizientesten könnte der PV-Zubau durch den Bau von grossen Anlagen erfolgen, denn sowohl die Planung als auch die Montage solcher Anlagen erfolgt rationeller.
Winterstrom: Speichern oder zeitgerecht produzieren?
Die saisonale Verteilung der Stromerzeugung wurde insbesondere durch die Elcom immer wieder thematisiert. Im Zusammenhang mit der Stromerzeugung durch Photovoltaik gibt es einerseits die Idee im Sommer Überschüsse zu erzeugen und diese z.B. in Form von Wasserstoff zu speichern, um daraus im Winter wieder Strom zu produzieren (Power to Gas). Auf der anderen Seite gibt es den Vorschlag, PV-Anlagen dort zu bauen, wo auch im Winter viel Strom aus Photovoltaik erzeugt werden kann, d.h. in den Alpen. Wegen der geringen Effizienz von Power to Gas, der fehlenden Infrastruktur zur Speicherung, Transport und Verstromung von Wasserstoff und dem oben erwähnten Zeitdruck der Umsetzung, wird nachfolgend die Stromerzeugung durch Photovoltaik in den Alpen betrachtet.
Gemessene Photovoltaik-Stromerträge in den Alpen
Dank einer generell hohen solaren Einstrahlung, wenig Hochnebel, Reflexionen an der Schneeoberfläche und tiefen Temperaturen lässt sich im Gebirge auch im Winter viel Strom erzeugen. Als grobe Faustregel fällt im Mittelland etwa 25 % des Jahresertrages und in den Alpen etwa 50 % des Jahresertrages im Winter an. Da der Jahresertrag im alpinen Raum typischerweise um den Faktor 1.5 bis 2 höher ausfällt als im Mittelland, wird in den Alpen letztendlich etwa 3 bis 4 Mal so viel Winterstrom pro Fläche erzeugt wie im Mittelland. Bezüglich Winterstrom und spezifischer Energieproduktion als auch aus wirtschaftlicher Sicht sind alpine Anlagen sehr attraktiv.
Um Simulationen der Erträge zu verifizieren und Erfahrungen mit PV-Anlagen auf freien Flächen im Gebirge sammeln zu können, wurde im Gebiet Totalp auf 2’500 m.ü.M oberhalb Davos im Jahr 2017 eine Versuchsanlage gebaut. Diese Anlage wurde durch die ZHAW Wädenswil geplant und durch EKZ, Innosuisse und ZHAW finanziert. Sie wird durch die ZHAW betrieben und ausgewertet. Auswertungen und aktuelle Leistungsdaten sind online abrufbar. Die Messungen der Anlage werden ausserdem auch im Rahmen des nationalen SWEET-EDGE Forschungsprojektes verwendet.
Die Versuchsanlage ist nach Süden ausgerichtet und besteht aus sechs individuell in der Neigung einstellbaren Klappen. Auf jeder dieser Klappen können bis zu 4 Standard-Module befestigt werden. Zum Einsatz kommen monofaziale, gerahmte, ungerahmte und bifaziale Module. Die Einstrahlung wird jeweils in allen Modulebenen, sowie auch in Ost-/West-Ausrichtung gemessen. Abbildung 1 zeigt die gemessenen mittleren spezifischen Jahreserträge der Jahre 2018 bis 2021 aufgeteilt in Sommerhalbjahr (April bis September) in heller Farbe und Winterhalbjahr (Oktober bis März) in dunkler Farbe. Die Doppel-T-Balken zeigen die Minimal- und Maximalwerte für den Winter- und für den Gesamtertrag in den vier Jahren. In grauer Farbe sind als Vergleich die Ertragsdaten einer Anlage in Wädenswil für denselben Zeitraum aufgeführt.
Der Winterertrag erreicht in der Versuchsanlage bei senkrechter Anordnung Richtung Süden und bifazialen Modulen sein Maximum, während der höchste Jahresertrag mit einer Steilheit der Modulfläche von 70 Grad erreicht wird. Die Bifazialität der Module erhöht den Jahresertrag gegenüber monofazialen Modulen um etwa 25 %. Eine senkrechte Ost-West-Ausrichtung der Module hätte eine tiefere Jahres- und insbesondere eine tiefere Winterstromproduktion zur Folge. Der Hauptgrund dürfte der ungünstigere Einfallswinkel der Solarstrahlung auf die Ost- bzw. Westflächen im Winterhalbjahr sein.
Abbildung 2 zeigt den monatlichen Verlauf der spezifischen Erträge der Versuchsanlage Totalp (90 Grad, bifaziale Module Richtung Süden) und der Anlage in Wädenswil. Der grosse Unterschied in den Erträgen im Winterhalbjahr (Jan bis Mär und Okt bis Dez) ist augenfällig.
Wie viel alpine Photovoltaik benötigen wir?
Die Frage nach dem Flächenbedarf ist nicht einfach zu beantworten. Letztendlich hängt der Bedarf vom gewünschten Selbstversorgungsgrad und von der Effizienz des Gesamtenergiesystems der Schweiz ab. Einen Einfluss haben aber auch die Ausschöpfung des PV-Potenzials auf Gebäuden und anderen Infrastrukturen, die Ausschöpfung des Windenergiepotenzials, die Sanierungsrate der Gebäude und die Qualität der Gebäudesanierungen, die Ausschöpfung der Effizienz- und Suffizienzpotenziale, die Importmöglichkeiten von Strom aus dem Ausland im Winter, sowie die Grösse und Art der saisonalen Energiespeicher. Aufgrund von eigenen Abschätzungen mit dem Dekarbonisierungsrechner kann von einem Bedarf aus alpiner Photovoltaik in der Grössenordnung von 5 bis 10 TWh pro Jahr ausgegangen werden.
Die dafür benötigte Fläche ist stark von der Steilheit des alpinen Geländes abhängig: In flachem Gelände müssen zwischen den einzelnen Modulreihen wegen der gegenseitigen Verschattung grössere Abstände vorgesehen werden als im steilen Gelände. Die Bandbreite der installierbaren Leistung reicht bei senkrechter Anstellung der Module von ca. 30 MWp im flachen Gelände bis 200 MWp pro km2 in sehr steilem Gelände. Durch die Verkleinerung der Reihenabstände werden aber die Reflexionen an der Schneeoberfläche vor und hinter den Modulreihen reduziert, sodass sich der spezifische Jahresertrag um bis zu 20 % reduziert. Umgekehrt werden sowohl der Bau als auch die Wartung von PV-Anlagen in einer horizontalen Ebene kostengünstiger ausfallen als im steilen Gelände. Bei durchschnittlich 100 MWp pro km2 und einem spezifischen Flächenertrag von 160 GWh pro km2 pro Jahr würde sich bei 5 TWh pro Jahr ein Flächenbedarf von ca. 30 km2 ergeben.
Vergleicht man diese 30 km2 mit den vegetationslosen Flächen von 4’635 km2, der unproduktiven Vegetation von 2’915 km2, den Alpwirtschaftsflächen von 5’033 km2 oder gar der Gesamtfläche der Schweiz von 41’291 km2, so wird klar, dass nicht von einer «grossflächigen Bedeckung der Schweiz mit alpiner Photovoltaik» gesprochen werden kann. Trotzdem sollten die Standorte für die alpinen PV-Anlagen sorgfältig ausgewählt und beim Bau und Betrieb u.a. auf die Erhaltung der Biodiversität, der Rückbaubarkeit und generell auf einen sorgfältigen Einsatz aller Ressourcen geachtet werden.
Dieser Artikel ist in leicht geänderter Form im VSE-Bulletin 10/2022 erschienen
Autor: Jürg Rohrer, ZHAW und Netto-Null-Beratung GmbH
[1] Bei Verwendung von vielen anderen Verteilschlüsseln – insbesondere, wenn die historischen CO2-Emissionen oder das wirtschaftliche Potenzial berücksichtigt werden – ist das Emissionsbudget für die Schweiz wesentlich geringer. Die Annahme einer Aufteilung des weltweiten Budgets auf die Länder anhand der Einwohnerzahl ist deshalb für die Schweiz sehr vorteilhaft.